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Junge Welt

Sonnabend/Sonntag, 6./7.November

1999, Nr. 260,seti 13, feuilleotn

Wohin soll das führen?

Steckengeblieben und dann auch noch stolz drauf: The Stuckists haben die Nase gestrichen voll von toten Tieren, Betten und Zelten

Es begann als Tracey Emin der Kragen platzte: ªYour paintings are stuck, you are stuck! Stuck! Stuck! Stuck!´ schrie sie ihren Ex-Freund Billy Childish an, der sich bis heute die Verbohrtheit leistet, Bilder zu malen. Tracey Emin, heiß gehandelte Anwärterin auf den diesjährigen Turner-Preis, kann das nicht verstehen. Gemeinsam mit einer Reihe von Britart-Künstlern, darunter Damien Hirst, dessen bekanntestes Werk ein eingelegtes geschlachtetes Schaf ist, zieht sie es vor, dem Fortschrittsgedanken in der Kunst hinterherzuhecheln. Ratlos angesichts der Frage, wie es nach ªMonochrom Azur´ in der Malerei vorangehen könnte, ließ Emin Pinsel Pinsel sein und verlegte sich darauf, ihr Privatleben herzuzeigen. Ihren ersten Skandal landete sie, als sie ein Zelt ausstellte, das mit den Namen aller Personen bestickt war, mit denen sie jemals geschlafen hat.

Derzeit kann man Emins zerwühltes Bett mitsamt Kondomabfall und Wodkaflaschen in der Londoner Tate-Gallery bestaunen. Während sich die einen freuen, eine medienträchtige Skandalnudel für den Kunstbetrieb ausschlachten zu können, regen sich die andern über die Obszönität der Objekte auf. Billy Childish interessiert weder das eine noch das andere. Der Novitätenterror läßt ihn kalt. Gemeinsam mit Charles Thomson hat er den Spieß umgedreht und aus einer Beleidigung eine Bewegung gemacht: die Stuckisten, die eigentlich gar keine Bewegung sind. Vielmehr ist es der Zusammenschluß von insgesamt 13 Künstlern und Künstlerinnen, darunter Sexton Ming, Ella Guru, Wolf Howard, Eamon Everall, Bill Lewis, Joe Machine, Frances Castle, Philip Absolon u.a., die auf den Kunstbetrieb scheißen und dem Schnittchenverspeisen auf finanzschweren Empfängen das Bildermalen vorziehen. jW dokumentiert im folgenden, zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum, das Gründungsmanifest dieser einmaligen Künstlergruppe. (cl)

Die Stuckisten

(est. 1999)

Gegen Konzeptualismus, Hedonismus und den Kult des Ego-Künstlers

1. Stuckismus ist das Streben nach Authentizität. Indem er/sie die Maske der Schlauheit ablegt und zu dem steht, was er/sie ist, gestattet sich der Stuckist unzensierten Ausdruck.

2. Malerei ist das Medium der Selbstentdeckung, sie nimmt die Person voll und ganz durch ihre Prozeßhaftigkeit, Emotionen, Gedanken und Visionen in Anspruch, indem sie diese in ihrer ganzen unversöhnlichen Breite und allen Einzelheiten offenlegt.

3. Stuckism schlägt ein holistisches Kunstmodell vor. Hier treffen sich das Bewußte und das Unbewußte, Gedanken und Gefühle, Spirituelles und Materielles, das Private und das Öffentliche. Modernismus ist eine Schule der Fragmentierung — ein Aspekt von Kunst wird isoliert und übertrieben dargestellt — zum Nachteil des Ganzen. Das ist eine grundlegende Verzerrung menschlicher Erfahrung und stellt eine egozentrische Lüge dar.

Stuckismus ist keine weitere Bewegung innerhalb des Modernismus: Es ist die Entkräftung sämtlicher Ausgangsbedingungen dieser Periode. Stuckismus ist eine Bewegung humanitärer Ideen, Inhalte und Kommunikation.

4. Künstler, die nicht malen, sind keine Künstler.

5. Kunst, die nur in einer Galerie als Kunst erkannt werden kann, ist keine Kunst.

6. Der Stuckist malt Bilder, weil es auf das Bildermalen ankommt.

7. Den Stuckisten beeindrucken keine schillernden Preise, er ist vielmehr von ganzem Herzen in den Prozeß des Malens eingebunden. Erfolg für den Stuckisten ist, morgens aus dem Bett zu kommen und zu malen.

8. Der Stuckist hat die Pflicht seine/ihre Neurose und Unschuld zu erkunden, indem er Gemälde anfertigt, sie in der Öffentlichkeit ausstellt und auf diese Weise die Gesellschaft bereichert, indem er eine gemeinsame Form individueller Erfahrung und eine individuelle Form einer gemeinsamen Erfahrung verfügbar macht.

9. Der Stuckist ist kein Karrierekünstler sondern ein Amateur (amare, Latein, lieben), der auf der Leinwand Risiken eingeht, anstatt sich hinter Ready-Mades (z.B. toten Schafen) zu verstecken. Der Amateur, weit davon entfernt, dem Professionellen unterlegen zu sein, steht an vorderster Front beim Experimentieren, völlig unbelastet von der Notwendigkeit als unfehlbar zu gelten. Fortschritte im menschlichen Bestreben werden von unerschrockenen Individuen gemacht, weil diese keinen Status verteidigen müssen. Anders als der Professionelle, hat der Stuckist keine Angst zu versagen.

10. Malerei ist geheimnisvoll, sie schafft Welten innerhalb von Welten, sie gewährt Zugang zu unbekannten psychischen Wirklichkeiten, in denen wir leben. Die Ergebnisse unterscheiden sich radikal vom verwendeten Material. Ein existierendes Objekt (z.B. ein totes Schaf) versperrt den Zutritt zur inneren Welt und kann nur Teil der physischen Welt, in der es sich befindet, bleiben, sei das Moorland oder eine Galerie. Ready-Made ist eine Polemik des Materialismus.

11. Post-Modernismus hat sich durch seinen voreiligen Versuch, das Schlaue und Geistreiche in der modernen Kunst nachzuäffen, in eine Sackgasse der Idiotie verrannt. Was einmal ein tiefgründiger und provokanter Prozeß war (wie Dadaismus), hat einer banalen Schläue, was kommerzielle Verwertbarkeit betrifft, Platz gemacht. Der Stuckist fordert eine Kunst, in der alle Aspekte menschlicher Erfahrung lebendig sind, und die es wagt, ihre Ideen vermittelst ursprünglicher Farbstoffe zu kommunizieren, und die sich selbst möglichst als überhaupt nicht clever wahrnimmt.

12. Gegen den Chauvinismus der Britart und des Ego-Künstlers. Stuckismus ist eine internationale Nicht-Bewegung.

13. Stuckismus ist Anti-ªismus´. Stuckismus wird kein Ismus weil Stuckismus kein Stuckism ist. Er ist steckengeblieben!

14. Britart, unterstützt von Saatchi, dem mainstream Konservatismus und der Labour Regierung, zieht den Anspruch, subversiv oder Avantgarde zu sein, ins Lächerliche.

15. Das permanente Streben des Ego-Künstlers nach öffentlicher Anerkennung führt zur ständigen Angst vor Versagen. Der Stuckist riskiert willentlich und mit Bedacht das eigene Versagen, indem er/sie es wagt, seine/ihre Ideen in Malerei umzusetzen. Während die Angst des Ego-Künstlers vor Versagen einen latenten Selbstekel hervorruft, erlebt der Stuckist durch seine Fehlschläge einenProzeß der Vertiefung, der zur Einsicht in die Sinnlosigkeit allen Strebens führt. Der Stuckist strebt nicht — was bedeutet dem, der man ist, oder wo man ist, auszuweichen —, sondern der Stuckist fühlt sich dem Moment verpflichtet.

16. Der Stuckist hat es aufgegeben, mühselige Spielchen mit Neuheit, Schock und Kinkerlitzchen zu spielen. Der Stuckist blickt weder rückwärts noch vorwärts, sondern ist mit dem Studium der menschlichen Verfassung beschäftigt. Die Stuckisten verfechten Prozeßhaftigkeit gegen Cleverness, Realismus gegen Abstraktion, Inhalt gegen Leere, Humor gegen Geistreichtum und Malerei gegen Selbstgefälligkeit.

17. Wenn es der Wunsch des Concept-Künstlers ist, immer clever zu sein, dann ist es die Pflicht des Stuckisten, immer falsch zu liegen.

18. Der Stuckist lehnt die Sterilität des Weiße-Wände-Galerien-Systems ab und fordert Ausstellungen in Wohnungen und moderigen Museen, die Zugang zu Sofas, Tischen, Stühlen und Tee erlauben. Die Umgebung, in der Kunst erlebt (nicht nur betrachtet) wird, darf nicht künstlich und nichtssagend sein.

19. Verbrechen durch Erziehung: Statt den Fortschritt im persönlichen Ausdruck durch angemessene Kunstprozesse zu fördern und so die Gesellschaft zu bereichern, ist das Kunsthochschulsystem zu einer glatten Bürokratie verkommen, deren oberste Motivation eine finanzielle ist. Die Stuckisten fordern eine offene Zulassungspolitik zu allen Kunsthochschulen, die sich an der Arbeit des/der Einzelnen orientierten, unabhängig von Schulbildung, oder dem Fehlen derselben. Wir fordern außerdem, daß ab sofort mit der Strategie reiche und untalentierte Studenten von zu Hause und aus dem Ausland an die Kunsthochschulen zu locken, Schluß gemacht wird. Wir verlangen darüber hinaus, daß alle Hochschulgebäude der Erwachsenenbildung und der Freizeitbeschäftigung der einheimischen Bevölkerung in den jeweiligen Einzugsgebieten zugänglich gemacht werden. Wenn eine Schule oder eine Hochschule nicht in der Lage ist, der Gemeinde in der sie zu Gast ist, Nutzen zu bringen, dann hat sie kein Recht geduldet zu werden. Wir verlangen hiermit das Recht, kreativer Möglichkeiten für alle!

20. Stuckismus umfaßt alles, was er ablehnt. Wir lehnen nur ab, was am Endpunkt endet — Stuckismus fängt am Endpunkt an!

Billy Childish

Charles Thomson

Die folgenden Künstler wurden dem Untersuchungsausschuß zur Aufnahme als Ehrenmitglieder
der Stuckisten vorgeschlagen: Katsushika Hokusai, Utagawa Hiroshige, Vincent van Gogh,
Edvard Munch, Karl Schmidt-Rotluff, Max Beckmann, Kurt Schwitters.

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